Familiendrama über die Suche nach dem Sinn des Lebens
Der amerikanische Dramatiker (und auch herausragende Schauspieler) Tracy Letts ist gegenwärtig sicherlich der markanteste Erbe der großen Tradition amerikanischer Familiendramatik, die durch Namen wie Eugene O’Neill, Tennessee Williams oder Edward Albee repräsentiert wird. Eines seiner letzten Werke, das Stück Mary Page Marlowe aus dem Jahr 2016, schildert das ungewöhnliche Leben einer amerikanischen Frau und erzählt davon, an welche Momente des Lebens sich der Mensch im Nachhinein (nicht) erinnert.
Alles beginnt mit den Bemühungen einer fünfundvierzigjährigen Mutter, ihren Kindern zu erklären, warum sie sich scheiden lässt – worauf elf Bilder folgen, wo wir Mary abwechselnd in Szenen vom zehnmonatigen Kind in seiner Wiege bis zur siebzigjährigen Frau sehen, die im Krankenhaus auf den Tod wartet. In außerordentlich wirkungsvoller Weise stellt uns der Autor die Frage: „Wie kommt es, dass diese kompromisslose, selbstbewusste und attraktive Frau ihr Leben nicht nach ihren Vorstellungen leben konnte?“ Und vor allem schafft er es, uns die ganze Zeit über in Spannung zu halten, wie Mary Page wirklich ist. Gut oder böse? Glücklich oder unglücklich? Geliebt oder verstoßen? Liebend oder verstoßend? Opfer oder Täter? Das außergewöhnliche Stück demonstriert so in schlichter Weise, wie kompliziert und uneindeutig ein scheinbar gewöhnliches menschliches Schicksal sein kann. Und wie unähnlich sich ein einziger Mensch in den verschiedenen Phasen seines Lebens sein kann. Wie schrieb es der Kritiker der New York Times Charles Isherwood in seiner begeisterten Rezension: „Die Form des Schauspiels erscheint mir schön und anrührend, wie wenn man ganz zufällig im Fotoalbum eines Freunde blättert – manche Gesichter kommen einem bekannt vor, andere erscheinen einem unerwartet. Und dann stößt man auf jemanden, den man überhaupt nicht kennt – der aber allem Anschein nach dem Freund sehr viel bedeutet haben muss –, und man wird sich der traurigen Tatsache bewusst, dass man auch seine Nächsten immer nur unvollständig und ausschnitthaft kennen wird.“